Abgeschaffte Wunder

Deutschland verzichtet in Oberstdorf auf die so genannte „Nationale Gruppe“

Die Vierschanzentournee lebt davon, Antworten auf viele Fragen zu geben. Natürlich in erster Linie auf die nach dem Gesamtsieger. Schafft wieder ein Springer den Grand-Slam, also alle vier Bewerbe zwischen Oberstdorf und Bischofshofen zu seinen Gunsten zu entscheiden? Oder schafft es mal wieder ein Athlet, am Ende ganz oben zu stehen, ohne eine einzige Konkurrenz zu seinen Gunsten entschieden zu haben? Gibt es noch einmal die Situation wie 2006, als mit Janne Ahonen und Jakub Janda zwei Sportler nach vier Springen auf das Zehntel punktgleich Gesamtsieger wurden? Das sind die großen Fragen. Eingebettet in die Tournee sind aber auch viele kleine. Weil der Modus aller vier Wettkämpfe im ersten Durchgang immer einen K.O.-Vergleich vorsieht, gibt es bei jedem dieser 25 Duelle einen klitzekleinen Spannungsbogen. Oft genug ist es der Zweikampf David gegen Goliath, manchmal – zugegebenermaßen selten – hat der Außenseiter die Nase vorn und zerstört damit beim Favoriten alle Träume in Richtung Gesamtwertung. 

Nationale Gruppe als Tournee-Besonderheit

Für die beiden Gastgeberländer gab es bisher aber noch eine weitere Extra-Wertung, die schon am Qualifikationstag begann. Denn neben den im Weltcup gesetzten Sportlern aus Deutschland bei den Springen in Oberstdorf und Partenkirchen bzw. Österreich in Innsbruck und Bischofshofen konnten beide Co-Gastgeber eine so genannte „Nationale Gruppe“ an den Start bringen. Und so durften an der Schattenbergschanze im Dezember 2020 statt der „normalen“ sechs DSV-Weltcupstarter gleich ein Dutzend Jungs an den Start gehen. Immerhin elf von ihnen schafften den Sprung unter die besten 50, sprich in den 1. Durchgang und das verschaffte aus Sicht der heimischen Fans diesem Wettbewerb natürlich zusätzliche Spannung. Gleiches galt Jahr für Jahr für die rot-weiß-roten Adler, dann in Österreich. Und gar nicht so selten stellten die deutschen Jungs aus der zweiten Reihe nach dem Neujahrsspringen die Trainer vor die knifflige Aufgabe, entscheiden zu müssen, wer den Trip nach Innsbruck denn antreten soll – denn aus den 12 DSV-Springern wurden nach Tourneehalbzeit und der Reise ins Nachbarland wieder sechs. Noch so ein Spannungsbogen. 

Kein DSV B-Team in Oberstdorf

In diesem Jahr wird er fehlen. Denn Deutschland verzichtet in Oberstdorf auf die nationale Gruppe. Was spätestens seit der Wiedervereinigung unter Rudi Tusch, Reinhard Heß, Wolfgang Steiert, Peter Rohwein und Werner Schuster als ungeschriebenes Gesetz galt, findet anno 2021 nicht statt. Der aktuelle Bundestrainer, Stefan Horngacher, will es so. Das ist zunächst nicht zu kritisieren, sondern nur zur Kenntnis zu nehmen, allein die Begründung der Maßnahme kann nicht so recht überzeugen. Relativ schmallippig erklärte Horngacher auf Nachfrage, man habe die Entscheidung strategisch getroffen, wolle den Springern aus der zweiten Reihe nicht zu viel Stress machen und setze sie deshalb erst zum Neujahrsspringen in Partenkirchen ein. Schwer nachvollziehbar, denn der Unterschied zwischen dem Auftakt in Oberstdorf und der Qualifikation am Silvestertag dürfte rudimentär sein. Den Hinweis, Springer wie beispielsweise David Siegel seien traurig, in Oberstdorf nicht starten zu dürfen, konterte der Bundestrainer einigermaßen harsch mit dem Hinweis, mit besseren Resultaten im Vorfeld der Saison hätte es Siegel ja ins Weltcup-Team schaffen können. Alles richtig und trotzdem irgendwie schade. Denn was fehlt, ist die Durchlässigkeit im Team im Hinblick auf die zweite Tourneehalbzeit. Tourneewunder – wenn ein Athlet aus der zweiten Reihe einen Starter aus dem Weltcupteam verdrängen konnte und die gesamte Tournee durchsprang, sind praktisch ausgeschlossen. Wenngleich Horngacher sicher am besten weiß, welches Leistungsniveau sein B-Kader gegenwärtig vorzuweisen hat. Die bekanntesten Namen jedenfalls springen gegenwärtig auch im Continental-Cup bestenfalls mit, David Siegel und Martin Hamann konnten nicht überzeugen, Richard Freitag versucht sich gar im drittklassigen FIS-Cup. Man darf dem Österreicher an der Spitze des DSV-Trainerteams durchaus unterstellen, auch über andere Faktoren gegrübelt zu haben. In Titisee-Neustadt und in Willingen gibt es weitere Weltcup-Springen auf deutschem Boden. Eventuell wird ein Teil der Weltelite mit Blick auf die Spiele in Peking auf eine Teilnahme an diesen Wettkämpfen verzichten, was die Chancen der dann startenden deutschen Teilnehmerschar in Bezug auf gute Platzierungen erhöht. Und natürlich ist eine Entscheidung gegen das B-Team auch immer ein Vertrauensbeweis für das aktuelle Weltcup-Septett.

Auf ein Neues 2022

Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass Oberstdorf 2021 eine Ausnahme bleibt. Weil vor allem die Fans, wenn sie denn im kommenden Winter wieder dabei sein dürfen, natürlich besonders begeistert sind, wenn Springer aus dem eigenen Land ins Tal segeln, weil die kleinen Höhepunkte ebenso Teil der Tournee sind, wie die Frage nach der Entscheidung ganz vorne und weil das Gesamtpaket das Flair der Vierschanzentournee ausmacht.

Foto: Skispringen-news.de/K.Schneider

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