Kult, Tradition, Kommerz und großer Sport – Die Vierschanzentournee

Es gibt auch im Sport Menschen, deren Ideen so gravierende Auswirkungen haben, dass sie in die Geschichte der Körperertüchtigung eingreifen. Henri Desgrange war so ein Mann. Dessen schlauer Plan, 1903 ein Rad-Etappenrennen durch Frankreich zu initiieren, fand einen gewissen Zuspruch. Bis heute! Denn die die Tour de France ist inzwischen nach den Olympischen Spielen und der Fußball-WM wohl das wichtigste globale Ereignis im Weltsport.

Im Skispringen gab es auch Pioniere mit Visionen, allerdings muss man in diesem Falle wohl von Schwarmintelligenz sprechen. Denn es waren gleich acht Herren, die sich am 17. Mai 1952 am Rande eines Nachtspringens auf der Seeschanze oberhalb von Innsbruck darauf verständigten, eine Springertournee durch Deutschland und Österreich ins Leben zu rufen. Ehre wem Ehre gebührt, die Herren hießen Toni Glos, Emmerich Pepeunig, Beppi Hartl, Franz Rappenglück, Andi Mischitz Fred Triebner, Alfons Huber und Xaver Kaiser. Sie vertraten die Orte Bischofshofen, Innsbruck, Garmisch-Partenkirchen und Oberstdorf.

Die drei erstgenannten Schanzen galten als gesetzt: Weil man zwischen Österreich und Deutschland aber die Balance halten wollte wurde ein vierter Ausrichter gesucht. Zunächst waren Berchtesgaden, Füssen oder Oberammergau in die nähere Wahl gerückt, weil sich deren Einzugsgebiete mit dem der Partenkirchner Olympiaschanze überschnitten, fiel die Wahl auf den Ort im Allgäu.

Höchst offiziell wurde die Gründung am 14. Dezember 1952 im Posthotel von Partenkirchen unterzeichnet und so nahm eine Erfolgsgeschichte ihren Lauf, die fortan das Skispringen im Speziellen, aber eben auch den Wintersport im Allgemeinen prägen sollte.

Zu den Kuriositäten der Tournee, die die vier Wettbewerbe seit ihrer Premiere begleiten, gehört der Umstand, dass die erste Tournee die bisher einzige ist, die in einem Kalenderjahr stattfand, nämlich 1953. Beim Premieren-Gesamtsieg des Österreichers Josef „Buwi“ Bradl startete man am Neujahrstag am Fuße der Zugspitze, dann ging es nach Oberstdorf und anschließend zu den Stationen in Österreich. Was im Umkehrschluss aber nicht bedeutet, das Oberstdorf der einzige Tourneeort ist, der zwei Springen in einem Jahr erlebte. Längst nicht die einzige Anekdote der Wettkampfserie rund um den Jahreswechsel.

1956 wurde die Tournee geadelt, denn die ARD entschloss sich, das Neujahrsspringen zu übertragen. Und griff damit mit beiden Händen hinein ins Quotenglück. Bis heute ist das Sportereignis am Neujahrstag in vielen Haushalten – nicht nur in Deutschland – fester Bestandteil des Tageskalenders am 1. Januar. Denn erst seit der Tournee 1972/73 ist die Reihenfolge der Orte fest fixiert.

Gab es in den Anfangsjahren der Tournee noch den einen oder anderen Ausreißer in feucht-fröhlicher Art, der Finne Hemmo Silvennoinen beispielsweise war wegen einer Zecherei zu Silvester aus der Mannschaft verbannt worden, durfte nach Intervention der Teamkollegen doch springen und gewann, wurden die Wettbewerbe Jahr für Jahr sportlich bedeutender und damit professioneller. Norweger und Finnen – in der Frühphase der Sportart die dominierenden Nationen, konnten es sich nicht mehr leisten, auf die Teilnahme an der Tournee zu verzichten und auch die Politik erkannte die Popularität der Veranstaltung – nicht immer zum Wohle des Sports. So eskalierte Ende 1959 der unsägliche Flaggenstreit zwischen der Bundesrepublik und der DDR, die Ostdeutschen um Superstar Helmut Recknagel verzichteten auf eine Teilnahme, weil sich Westdeutschland geweigert hatte, die als „Spalterflagge“ verpönte DDR-Fahne zu hissen. Einige Ostblockländer schlossen sich an. Helmut Recknagel war trotz des Ausschlusses seines Teams der erste Springer, der drei Gesamtsiege feiern konnte. Er leitete eine Erfolgsgeschichte ein, die mit wenigen Unterbrechungen bis zum Jahr 2002 anhielt. Aber der Reihe nach.

Von 1962 bis 1969 kamen die Sieger allesamt aus Norwegen oder Finnland, dann war es der Thüringer Horst Queck, der mal wieder für ein deutsches Erfolgserlebnis sorgte. Inzwischen sprang man mit den Händen an der Hosennaht und auch sonst zeigte sich die Tournee innovativ. Die Schanze in Innsbruck beispielsweise bekam in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts einen verschiebbaren Schanzentisch. Die elektronische Weitenmessung hatte da den Handbetrieb der Kampfrichter schon längst ersetzt. Überhaupt Innsbruck: Dort galt Jahrzehnte der Spruch: Letzter siegreicher Tiroler am Bergisel war Andreas Hofer. Der Sieg des Tiroler Freiheitskämpfers gegen die Napoleonische Fremdherrschaft lag allerdings schon ein paar Jährchen länger zurück, datiert auf das Jahr 1809. Und erst im Jahr 2000 musste man den Gag zu Grabe tragen, da nämlich gewann Andreas Widhölzl, heute Trainer der rot-weiß-roten Adler. Die Schanze auf dem Hausberg der Tiroler Landeshauptstadt galt jahrzehntelang als Tournee-Scharfrichter.

Deshalb gilt die Anlage auch als Berg der Tränen, denn Tränen der Enttäuschung, aber auch Freudentränen flossen zuhauf. Zuletzt wieder einmal bei den Deutschen. Bei der Tournee 2018/19 lieferten sich beispielsweise der spätere Sieger, Ryoyu Kobayashi und Marcus Eisenbichler in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, der Japaner hatte bei Tournee-Halbzeit reichlich 2 Punkte Vorsprung auf den Bayern. Dann kam Innsbruck, Eisenbichler wurde nur 13. in der Tageswertung, das Ende aller Tourneeträume. Wochen später jedoch segelte Eisenbichler auf gleicher Schanze viel besser durch die Luft, holte sowohl im Einzelwettbewerb als auch mit der Mannschaft die Goldmedaille. Im Team damals stand übrigens neben Karl Geiger und Stephan Leyhe auch ein gewisser Richard Freitag. Der Sachse hatte im Jahr zuvor auf der Anlage in Tirol seine Tourneechance durch einen Sturz im 1. Durchgang verspielt, musste den Wettkampf aufgeben. Weniger schmerzhaft, aber auch folgenreich war 2016 der Abflug von Severin Freund auf der gleichen Anlage ausgegangen, Freund war in der Probe in den Schnee gefallen, Sloweniens Petr Prevc nutzte die Verunsicherung und nahm in der Folge dem Deutschen die entscheidenden Meter ab.

Auch den skurillsten Tournee-Psycho-Trick gab es am Bergisel – wird zumindest kolportiert. Mitte der 70er Jahre, als die Österreicher sich mit den Springern der DDR einen Zweikampf um die Weltspitze lieferten, lies der damalige Cheftrainer der Gastgeber, Baldur Preiml, im Springerlager am Berg ein Zelt errichten. Die Ostdeutschen hätten zu gern gewusst, was sich innerhalb der des Tipis abspielt, doch dieses Geheimnis lüfteten die ÖSV-Adler erst Jahre später. Im Zelt spielte sich nämlich gar nichts ab, dort relaxten die Springer lediglich zwischen den Durchgängen. Nach außen allerdings wurde um die Behausung ein großes Geheimnis gemacht. Was deshalb besonders pikant war, weil in dieser Zeit ein regelrechter Krieg zwischen den heimischen Adlern und dem Rest der Springerwelt tobte, die Österreicher hatten sich nämlich durch innovative Erfindungen im Materialbereich einen Vorteil verschafft, den der Weltverband FIS nach Regeländerungen wieder etwas relativiert hatte.

Als nun auch noch der gesundheitlich angeschlagene Thüringer Doppelweltmeister Hans Georg Aschenbach von einem Kollegen aus Österreich eingeflüstert bekam, die Anlaufspur sei derart nass, dass man wohl besser neben der Spur anfahren solle, war das Chaos perfekt, Aschenbach versuchte sein Glück neben der Spur, war gnadenlos langsamer als die Konkurrenz und sprang entsprechend kurz – Platz 34 die Konsequenz.

Ihre Opfer forderten die Bergisel-Springen aber auch ohne Psychologie. Toni Innauer, Sieger von Oberstdorf und Partenkirchen wollte den dritten Tagessieg, schmierte jedoch im 1. Durchgang vom böigen Wind beeinträchtigt gnadenlos ab, belegte in Innsbruck nur Rang 24 und verlor auf Tagessieger Jochen Danneberg die Punkte, die er trotz des dritten Einzelerfolgs beim Dreikönigsspringen in Bischofshofen nicht mehr egalisieren konnte. Und so landeten am Ende der Tournee fünf Österreicher unter den besten Acht, der Sieger aber hieß Jochen Danneberg.

Womit wir beim statistischen Teil wären. Im Winter 1971/72 dominierte der Japaner Yukio Kasaya, hätte als erster Japaner die Tournee und als erster Springer alle vier Einzelspringen für sich entscheiden können. Aber Kasaya reiste ab, der so genannte „Grand Slam“ blieb unerreicht. Der Norweger Ingolf Mork gewann die Tour und es sollte bis zur 50. Auflage dauern, ehe mit Sven Hannawald das Unmögliche doch möglich wurde und ein Athlet auf allen vier Schanzen aufs oberste Treppchen flog. Das Kunststück wiederholten später der Pole Kamil Stoch und der Japaner Ryoyu Kobayashi. Er war übrigens der zweite Mann aus Fernost nach Kazuyoshi Funaki, der sich in die Tournee-Siegerliste eintragen konnte. Jeweils 16 Mal dominierten Springer aus einem der beiden Gastgeberländer. Das ist Rekord. Die Österreicher fremdelten nach dem Auftaktsieg von Buwi Bradl über 20 Jahre, dann schnappte sich 1975 Willi Pürstl die Trophäe für den Gesamtsieg. Waren die folgenden Jahre geprägt von den Duellen zwischen den Adlern aus Österreich und Ostdeutschland, läutete Wolfgang Loizl mit seinem Erfolg 2009 eine Phase ausschließlicher österreichischer Triumphe ein, die bis zum Gesamtsieg von Stefan Kraft 2015 anhalten sollte. Die Deutschen dagegen fielen nach dem Hannawald-Triumphzug in ein Loch, warten seit 2002 auf den nächsten Gesamtsieg. Die meisten Erfolge feierte übrigens der Finne Janne Ahonen, der die Tournee insgesamt 5 Mal zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Eigentlich müsste es viereinhalbmal heißen, denn die Tournee 2005/06 endete mit einem Doppelsieg, weil Ahonen und der Tscheche Jakub Janda nach je acht Versuchen auf die Zehntel genau die gleiche Punktzahl aufwiesen – noch so ein Tournee-Novum.

Was gab es sonst noch so? Plastikbelag und Helme, V-Stil und Windpunkte, Skisprung-Spezialschuhe und Bindungsstäbe, Pflicht-Qualifikation und neue Schanzen, all das prägte die Tournee. Und auch die Kommerzialisierung ging nicht am Wettbewerb rund um den Jahreswechsel vorbei. Sie bekam Ende der 70er Jahre ihren ersten Namenssponsor, zu den vielen Pokalen gesellen sich inzwischen opulente Preisgelder und die Werbebanden in den Stadien kosten erkleckliche Summen.

In erster Linie aber bleibt die Vierschanzentournee das Treffen der weltbesten Skispringer. Es gibt kaum eine Karriere ohne Tourneesieg. Helmut Recknagel, der Norweger Björn Wirkola, Hans-Georg Aschenbach, Hubert Neuper, Ernst Vettori, Andreas Goldberger, Thomas Morgenstern und Gregor Schlierenzauer, Adam Malysz seien stellvertretend genannt und natürlich die vielleicht prägendsten Figuren in der Szene: Matti Nykänen und Jens Weißflog. Nykänen siegte zwei Mal, der Floh vom Fichtelberg drei Mal. Besonders pikant dabei: 2x gewann Weißflog mit paralleler Skiführung, die dritte Runde im heute noch aktuellen V-Stil.

Was fehlt? Natürlich die Vierschanzentournee für Frauen. Die steht seit Jahren in den Startlöchern, verschiebt sich aber immer wieder. Erst Mitte Dezember erklärte die Präsidentin des Österreichischen Skiverbandes, Roswitha Stadlober, dass sich die ursprünglich für die Saison 2023/24 geplante Premiere um ein weiteres Jahr verschieben wird. Aber man darf sicher sein, das sie kommt. Mit Stars und Sternchen, Siegerinnen und Verliererinnen, lustigen und traurigen Episoden, mit neuen Heldinnen und mit vielen Fans. So gesehen haben die Herren der Schöpfung da gute Vorarbeit geleistet.

Foto: K.Voigt Fotografie

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