Halvor Egner Granerud entscheidet die Vierschanzentournee souverän zu seinen Gunsten
Der Mann ist alles: Kindergärtner, Nacktspringer, in seiner Heimat Norwegen schon längst Werbeikone, Fußballfan, Familienmensch und nun auch Tournee-Sieger. Halvor Egner Granerud, 26 Jahre alt, und spätestens seit der Saison 2020/21 eine große Nummer im Skisprung-Zirkus hat sich einen Kindheitstraum erfüllt und die Vierschanzentournee der Skispringer entschieden. Zwar reichte es nicht zum legendären Grand-Slam, also Einzelerfolgen bei allen vier Tourneespringen. Das verhinderte der Pole David Kubacki, der in Innsbruck knapp vor dem Norweger aufs oberste Treppchen kam. Aber dafür mit einer neuen Rekordpunktzahl in der Gesamtwertung und einem deutlichen Vorsprung vor der Konkurrenz.
Gerne mal außergewöhnlich
Granerud gehört zu den Extrovertierten in seiner Sportart. Er ist zwar kein Lautsprecher, lässt die Öffentlichkeit andererseits gern teilhaben an seinen Emotionen. Kein Wunder also, dass er nach dem Finale in Bischofshofen zunächst seiner Frau und den Eltern um den Hals fiel. Zwei Springen zuvor, in Partenkirchen, hatte der Jubel noch ein wenig anders ausgesehen. Da ruhte der Sieger in sich selbst, verharrte in einer Yoga-Pose. Eine Hommage an Landsmann Erling Haaland, denn Granerud ist Fußball-Fan und der Stürmer von Manchester City verharrt nach seinen Toren auch gerne mal in eben dieser Position.
Social Media sind für ihn kein Fremdwort. In puncto Bekanntheit kann es der 26jährige Skispringer nicht nur deshalb – zumindest in seiner Heimat – locker mit dem Fußballer aufnehmen. Was nicht nur an seinen sportlichen Leistungen liegt. Spätestens als sich Granerud einst entschloss, mal auszuprobieren, wie es denn sei, nackt von einer 60-Meter-Schanze zu springen und er den Versuch auch noch filmen lies, ging seine Popularität durch die Decke, fortan kannte den bis dato unbekannten Nachwuchsspringer in der Heimat jedes Kind, allerdings unter dem Namen „Nacktspringer“ (Nakenhopperen). Die verrückte Einlage liegt inzwischen aber schon rund 10 Jahre zurück, Granerud hat sich längst auch durch Top-Leistungen einen Namen gemacht.
Der lange Weg an die Spitze
Der erste große Erfolg im Erwachsenenbereich stellte sich kurz vor der Tournee 2017/18 ein, als Granerud in Engelberg überraschend auf Platz 5 landete. Es folgten zwei Winter mit Höhen und Tiefen. Qualifiziert für die WM in Seefeld 2019 reichte es bei zwei Einsätzen zu keiner Medaille, die folgende Saison ging komplett daneben. Granerud ging trotzdem seinen eigenen Weg, nahm einen Job als Kindergärtner an, fand zu sich selbst und zu besseren Leistungen. Die Folge war der Durchbruch in die absolute Weltspitze, besonders auffällig seine Fähigkeiten als Flieger. Bei der Skiflug-WM scheiterte Granerud im Einzel denkbar knapp an Weltmeister Karl Geiger aus Deutschland, revanchierte sich mit zwei Traumflügen im Mannschaftswettbewerb aber, sicherte ebenso denkbar knapp den Titel für Norwegen.
Den ersten Weltcupsieg im Einzelwettbewerb gab es noch im gleichen Kalenderjahr, allerdings schon in der auf den WM-Titel folgenden Saison. Granerud gewann in Kuusamo, dominierte anschließend im Weltcup und fuhr als Favorit zur Vierschanzentournee. Die zu gewinnen, so hatte er verkündet, das sei seit Kindesbeinen sein Traum gewesen. Als Sven Hannawald 2002 als erster Springer das Wunder schaffte und alle vier Tourneespringen zu seinen Gunsten entscheiden konnte, da versuchte sich der kleine Halvor im heimischen Garten in Oslo als Nachahmer – weil seine Skier zufällig die gleiche Farbe aufwiesen, wie die des Deutschen.
In der Saison 20/21 reichte es aber noch nicht zum Triumpf. Granerud führte bei Halbzeit zwar in der Gesamtwertung, die Springen in Österreich verliefen aber nicht zufriedenstellend, am Ende langte es „nur“ zu Platz 4. Was Granerud aber nicht daran hinderte, anschließend wieder zuzuschlagen und am Ende der (Corona bedingt verkürzten) Saison die große Kristallkugel des Gesamtweltcup-Siegers zu gewinnen.
Immer wieder Rückschläge
Dennoch verlies der damals 24jährige den Winter mit gemischten Gefühlen, denn auch bei der WM in Oberstdorf blieb Granerud das Pech treu. Angereist als Top-Favorit reichte es im Mixed-Team zu Silber, dann folgte ein positiver Corona-Test, verbunden mit dem WM-Aus. Während die Konkurrenz um Medaillen kämpft, musste der Norweger im Ferienhaus des deutschen Ex-Frauen-Bundestrainers Andreas Bauer tatenlos zuschauen.
Vielleicht lag es daran, dass im Winter darauf fast nichts lief. Ein Absprungfehler hatte sich ins System des Fliegers eingeschlichen, Granerud trieb es mit konstanter Boshaftigkeit immer nach rechts, manche Zuschauer machten sich schon Sorgen, ob der Norweger überhaupt noch im Auslauf zum Landen ansetzen könne. Zumindest schaffte er aber noch einen Weltcupsieg, was ihn an die Spitze der Norweger in dieser Wertung verhalf und es reichte auch zur Olympiaqualifikation. Aber wie so oft – zum Saisonhöhepunkt fehlte die Form und so sprang in China keine Medaille heraus.
Neue Impulse
Was dazu führte, dass sich Granerud einerseits wieder auf bewährte Muster zurückzog, andererseits gravierende Änderungen vornahm. Er jobbte wieder in einem Kindergarten, das hatte ja schon mal geholfen. Und er wechselte die Skimarke, stieg auf ein Modell um, dass seinem Flugstil wohl mehr entgegenkam. Eingeweihte munkeln sogar, man habe ihm asymmetrische Skier gebaut, um den Absprungfehler besser zu kaschieren.
Wie auch immer: Nachdem Granerud auf die Sommer-Saison keinen großen Wert gelegt hatte, kam er gut in den Winter, reiste dennoch nicht als Top-Favorit zur Tournee. Denn Polens David Kubacki hatte das erste Winter-Trimester dominiert. Aber in Oberstdorf unterstrich der Mann aus Oslo seine Top-Form, legte beim Neujahrsspringen nach und gewann auch das Abschlussspringen in Bischofshofen. In Innsbruck wurde Granerud Zweiter, knapp geschlagen von Kubacki. Sein kurzer Wutausbruch in der so genannten Leader-Box, als er registrieren musste, dass der Pole am Bergisel ein paar Pünktchen besser war, als er selbst, belegten den Ehrgeiz des Tourneesiegers.
Der Ärger ist längst verraucht, vielmehr großem Jubel gewichen. Denn Granerud bewies mit dem finalen Sieg auf der Paul-Außerleitner Schanze im Pongau, dass er derzeit tatsächlich das Maß der Dinge ist. Feierte fröhlich und ließ sich feiern. Vom Team, von der Familie und von den Fans. Denen an der Schanze und denen daheim. Denn Graneruds Gesamterfolg ist der erste eines norwegischen Springers seit Anders Jacobsens Triumpf 2007. Jacobsen gewann anschließend bei der WM in Sapporo auch Silber mit dem Team.
Neue Ziele
Vielleicht ein gutes Omen für seinen Nachfolger. Vielleicht aber hat Granerud auch einen anderen Plan. Denn die Vierschanzentournee und das Mutterland des Skisports sind nie echte Freunde geworden. Zwar war sein Titel der insgesamt 11. Gesamtsieg für die Norweger, aber Deutschland, Finnland und Österreich haben stolze 16 Gesamterfolge auf der Habenseite – für die Norweger kein erfreuliches Gesamtergebnis. Oder aber Granerud macht Jagd auf seinen zweiten Gesamtsieg. Das wäre auch in der heimischen Wertung Rang 2 – nur der große Björn Wirkola als Dreifachsieger kann in der Heimat auf mehr Erfolge verweisen, gewann drei Tourneen.
Fotos: K.Schneider, Skispringen-news.de