Gut Ding will Weile haben

Die Entwicklung des Frauenskispringens von den Anfängen bis zum Skifliegen gleicht einem Marathonn

„Gut Ding will Weile haben“, diese Lebensweisheit ist wurde schon im 17. Jahrhundert verschriftlicht, als ein gewisser Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen im „Abenteuerlichen Simplicissimus“ exakt diesen Spruch aufschrieb. Auch Altmeister Goethe bediente sich des Satzes in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“, das war 1821. Es muss also etwas dran sein, an dieser Volksweisheit.

Und damit kommt Ragna Pettersen ins Spiel. Ob die Norwegerin Johann Wolfgang von Goethe kannte ist eher unwahrscheinlich. Zumindest kannte sie ihn definitiv nicht persönlich, denn Pettersen sprang als 10jährige Ski. Und zwar so gut, dass ihr in Nydalen 1897 – also schlappe 76 Jahre nach dem Sinnspruch des Dichterfürsten – der erste verbriefte Weltrekord skispringender Frauen zugeordnet wird. Womit wir bei der Entwicklung des Frauenskispringens allgemein und dem Skifliegen für das weibliche Geschlecht im Besonderen wären. Denn hier gilt in ganz besonderer Ausprägung die von Goethe und Grimmelshausen fixierte Volksweisheit. Aber der Reihe nach…

Vergleicht man die Entwicklung der Parallel-Universen Männer-Skispringen und Frauen-Skispringen miteinander, dann muss das Ding mit den Frauen besonders gut gewesen sein, denn die Entwicklung verlief alles andere als parallel – und damit ist nicht der Sprungstil gemeint.

Skispringen im Männerbereich zeichnete sich durch eine gewisse Kontinuität aus – die Schanzen wurden größer, das Material besser, Publikumszuspruch und Popularität entwickelten sich, die Strukturen wurde professioneller, man suchte nach neuen Herausforderungen, zum Skispringen kam das Skifliegen hinzu; alles folgte einer gewissen Logik, ein Stein passte auf den anderen.

Bei den Frauen dagegen passte gar nichts. Zwar lassen sich immer wieder Gemeinsamkeiten feststellen – so ist Norwegen bei Männern und Frauen als das Ursprungsland der Disziplin verbrieft. Aber Frauenskispringen blieb weitestgehend eine Exoten-Übung, wenngleich aus dem norwegischen Trondheim schon 1914 von einem Wettkampf berichtet wird, an dem 28 Norwegerinnen teilgenommen haben sollen. Das aber war die löbliche Ausnahme, ansonsten berichten die Chronisten von einzelnen Versuchen junger Frauen, die Schanzen zu beherrschen, in Skandinavien sowieso, aber auch in Mitteleuropa und den Vereinigten Staaten. Zu den Pionieren der des Frauenspringens zählen Damen wie die Österreicherin Paula von Lamberg, die schon 1911 in Kitzbühl 22 Meter stand, die Norwegerin Johanna Kolstad, die 1938 den Weltrekord auf 72 Meter schraubte oder die Kanadierin Isabell Coursier, die auf dem Nordamerikanischen Kontinent für Aufmerksamkeit sorgte. Grundsätzlich aber waren Wettbewerbe im Skispringen für Frauen undenkbar.

Es ist nur mit der allmählichen Emanzipation des weiblichen Geschlechts zu erklären, das Skispringen für Frauen langsam Fahrt aufnahm. Denn natürlich gab es mutige Mädchen und Frauen, die es den Herren der Schöpfung gleichtun wollten und die es auf die Schanzen zog. Wieder setzte eine Norwegerin das Signal, Anita Wold schraubte in den 70er des letzten Jahrhunderts mehrfach am Uralt-Weltrekord ihrer Landsfrau Kolstad aus den späten 30ern, 1976 sprang sie 97,5 Meter weit. Fünf Jahre später schaffte die Finnin Tiina Lehtola mit 110 Metern den ersten Satz über die magischer Einhunderter-Grenze und mit der Österreicherin Eva Ganster versuchte sich dann die erste junge Dame auch am Skifliegen, kam am Kulm auf sensationelle 167 Meter. Das war aber schon 1997 – und einen regulären Wettbewerb für Frauen gab es immer noch nicht.

Der Weltskiverband reagierte – vorsichtig formuliert – zurückhaltend auf das Ansinnen der Damen, eigene Wettkämpfe auszurichten. Legendär wurde der Spruch des einstigen FIS-Präsidenten Gian-Franco Kasper, Skispringen sei für Frauen aus medizinischen Gründen bedenklich. Bei der Wucht des Aufpralls bei der Landung könne die Gebärmutter reißen, so wird kolportiert, habe der FIS-Präsident einst moniert. Eine Aussage, die für Schlagzeilen sorgte, die Reaktionen reichten von Empörung bis Heiterkeit.

Aufhalten ließ sich die Entwicklung aber auch durch den Präsidenten nicht. 1999 genehmigte die FIS den Grand Prix für Ladies – zunächst im Sommer. Doch die Teilnehmerzahlen stiegen und damit auch die Chance, im Winter eine Wettkampfserie zu installieren. Heute heißt die Reihe, wie bei den Männern auch, Weltcup. 

Aber: Auch mit diesem Begriff ist bei Damen und Herren zwar das Gleiche gemeint, die Unterschiede sind aber nach wie vor vorhanden. Gesprungen wird bei den Frauen überwiegend noch von Normalschanzen, den kleineren Bakken also im Vergleich zur Großschanze, das Fernsehen überträgt eher weniger und damit driften auch die Vermarktungsmöglichkeiten zwischen Damen und Herren weit auseinander, Insider sprechen davon, das erfolgreiche Frauen bestenfalls ein Drittel des Werbesalärs erwirtschaften können, vergleicht man die Summen mit den Erträgen der Männer.

Dennoch: Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern wurden im Skispringen schrittweise geringer, die Diskrepanz kleiner, die Gemeinsamkeiten größer. Lag auch daran, dass die Mixed-Team-Wettbewerbe im letzten Jahrzehnt dazu beitrugen, die Akzeptanz des Frauenskispringens als die zu den Männern gleichwertige Teildisziplin zu etablieren.

Bliebe die letzte männliche Domäne: Das Skifliegen. Eva Ganster, später auch Daniela Iraschko und einige andere mutige Damen hatten der Welt vorgeführt, dass auch das Fliegen für Frauen kein unüberwindbares Hindernis darstellt. Iraschko schraubte den Weltrekord 2003 in Bad Mitterndorf auf 200 Meter. Aber der Weltverband stellte sich quer. Im konkreten Fall aber nicht aus Prinzip, sondern aus nachvollziehbaren Gründen.

Man muss kein Mediziner sein, um zu wissen, dass es zwischen Männern und Frauen körperliche Unterschiede gibt. Da wäre das Verhältnis von Muskulatur- zu Fettanteilen im Gewebe, da wären die Maximalkraft-Möglichkeiten, da wären Hebelwirkungen und Körpergröße.  Dies alles aber lässt sich kompensieren – das Zauberwort heißt Anlauflänge. Richtig ist aber auch – Frauen springen etwas anders als Männer. Wenn dann mit der durch den verlängerten Anlauf höheren Geschwindigkeit Stürze passieren, kann das fatale Folgen haben. Und dieses Risiko scheute der Verband, vor dieser Gefahr warnen noch heute Experten, die dem Frauen-Skispringen grundsätzlich wohlgesonnen sind, so Österreichs Legende Toni Innauer.

Die Springerinnen selbst kennen das Risiko natürlich genau. Und ließen sich dennoch davon nicht abschrecken. Im letzten Winter gab es dann den Durchbruch: Der Weltverband entschloss sich, auch die letzte Männer-Bastion in der Disziplin einzureißen, die Frauen nutzten ihre Chance, katapultierten sich in norwegischen Vikersund über die 200-Meter-Marke. Norwegens Maren Lundby schraubte zunächst den Landesrekord auf stolze 212,5 Meter und der neue Weltrekord steht jetzt bei 226 Metern, wird von Ema Klinec aus Slowenien gehalten. Und damit sind die Möglichkeiten garantiert noch längst nicht ausgereizt.

Ende der aktuellen Saison werden die Frauen wieder in Vikersund erscheinen und versuchen, die Bestmarke erneut zu testen. Oder die persönlichen Grenzen. Denn über 200 Meter zu segeln ist für viele Ladies ein persönlicher Traum, den sie sich erfüllen wollen. Wenn nicht in diesem Winter, dann im nächsten. Denn gerade bei einem Wettbewerb im Grenzbereich des Möglichen ist Geduld ein wesentlicher und wichtiger Faktor. Nur Maren Lundby wird nicht mehr dabei sein, weil die 29jährige Ende des letzten Jahres Schluss machte. Aber Lundby hat in ihrer Laufbahn alles erreicht, ist Olympiasiegerin, Weltmeisterin, über 200 Meter geflogen. Mehr geht (noch) nicht. Wahrscheinlich werden Skispringerinnen in 20 Jahren über diese Einengung der Möglichkeiten den Kopf schütteln. Höhepunkte wie die Vierschanzentournee oder eine Skiflug-WM fehlen derzeit noch auf der Agenda. Aber: In diesem Punkt sind die Damen inzwischen entspannt, denn wenn Skispringerinnen in der Vergangenheit eines gelernt haben, dann das: Gut Ding will Weile haben.

Photo by Dominik Berchtold / VOIGT

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