Ja, Biathlon ist älter als das Fernsehen – deutlich älter sogar. Als sich 1861 im norwegischen Trysil der erste Biathlon-Verein gegründet haben soll, da musste man auf Hügel klettern, um „fernsehen“ zu können.
Aber als die Bilder später laufen lernten, da lief Biathlon mit. Allerdings nur am Rande! Denn besonders auf dem deutschsprachigen Markt war die Konkurrenz groß, selbst im Winter: König Fußball, alpiner Skisport, Skispringen, Eiskunstlaufen, diese Sportarten standen im Fokus. Andere hatten es da schwerer, das lag an technischen Voraussetzungen, am Publikumsinteresse und auch am Regelwerk. Heute unvorstellbar ist dieses TV-Beispiel: Beim 15 km Langlauf der Männer mit Einzelstart im Abstand von 30 Sekunden gab es eine Kamera am Start, zwei oder drei stationäre Kameras im Wald und natürlich die Kamera im Ziel. Das war’s. Das führte zwar hin und wieder zur Legendenbildung, wenn beispielsweise ZDF-Kommentator Bruno Morawetz bei den Olympischen Spielen 1980 in Lake Placid den jungen Jochen Behle suchte, der zwischenzeitlich mit den Besten der Welt mitgelaufen war, jedoch nie ins Bild kam. „Wo ist Behle?“ gehört seither zu den geflügelten Worten im Skilanglauf. In anderen Ländern erinnert man sich an dieses Rennen vor allem deshalb, weil sich der spätere Olympiasieger Thomas Wassberg aus Schweden und der Finne Juha Mieto ein Fernduell lieferten, dass Wassberg mit einer Hundertstel Sekunde Vorsprung zu seinen Gunsten entschied. Die unglaubliche Dramatik dieser Entscheidung wurde aber eigentlich nur durch die eingeblendeten Zwischenzeiten vermittelt.
Im Biathlon lag die Sache ähnlich. Das Schießen wurde von einer Kamera verfolgt, die hinter dem Stand auf einem Podest platziert war. Ansonsten rannten die Sportler durch die verschneiten Wälder, hin und wieder bildlich eingefangen von einem Kameramann. Es gab eine lange Strecke über 20 km, dazu den so genannten Sprint über die halbe Distanz und ein Staffelrennen. Diese Regeln galten als in Stein gemeißelt und als die Frauen die Sportart für sich entdeckten, absolvierten die ihre Wettbewerbe nach dem gleichen Muster, nur die Strecken waren etwas kürzer. Trotzdem hatte die Biathlon-Szene ihre Stars, Viktor Tichonow aus der UdSSR, Frank Ullrich aus Thüringen oder den Bayern Peter Angerer, um mal nur drei zu nennen.
Die Biathlon-WM 1993 im bulgarischen Borowetz stellte so etwas wie eine Zäsur dar. Denn unerfahrene und teilweise überforderte Regisseure und Kameraleute verpassten mal die Sieger oder lieferten Bilder, auf denen gar keine Sportlerinnen und Sportler zu sehen waren. Telegener Sport jedenfalls, da war man sich einig, geht anders.
Im Sommer des gleichen Jahres gründete sich der Biathlon-Weltverband. Und trat mit dem Ziel an, die Sportart, die zuvor unter dem Dach des Modernen Fünfkampfes firmierte, neu aufzustellen. Ein Mann beförderte die Neuerungen dabei besonders: Janez Vodicar. Der Professor aus Ljubljana, Sportdirektor des neuen Weltverbandes, trieb gemeinsam mit dem Generalsekretär des Verbandes, Peter Bayer aus Deutschland, die Professionalisierung voran. Und änderte nicht nur Regeln, sondern auch Rahmenbedingungen, krempelte die Sportart radikal um.
Wer fortan Weltcuprennen durchführen wollte, musste bestimmte Bedingungen einhalten. Größere Schießstände beispielsweise mit 30 Schießbahnen, um Massenstartrennen zu ermöglichen. Und auch das Fernsehen war technisch inzwischen in der Lage, die Schießeinlagen perfekt zu übertragen. Die Bild-in-Bild-Technologie machte es möglich, einerseits Sportlerinnen und Sportler bei ihren Übungen zu zeigen, andererseits mit einer weiteren Kamera die Scheiben zeitgleich ins Bild zu setzen. Das erhöhte die Spannung. Neue Wettkämpfe wurden etabliert, Sprint und Verfolgung beispielsweise, es wurde experimentiert und bei anderen Sportarten abgeschaut. Der Massenstart etablierte sich, die Wettkampflänge wurde so gesteuert, dass sich Wettbewerbe nur in Ausnahmefällen länger hinzogen als ein Fußballspiel. Man benutzte die Wissenschaft, um Fehler zu vermeiden und man benutzte das Fernsehen als Transformationsriemen für die eigene Popularität. Die wiederum führte zu gesteigertem Interesse bei Sponsoren – ein Kreislauf entstand, den man neudeutsch als Win-Win-Situation bezeichnen kann.
Die Sportart hatte aber auch Glück. Denn ausgerechnet auf dem wichtigsten europäischen Fernsehmarkt schoss die Einschaltquote durch die Decke. Deutschland hatte just in den Zeiten des Wandels gleich mehrere Top-Athletinnen und Athleten, die sportlich für Furore sorgten, zu Publikumslieblingen wurden. Dazu besaß und besitzt das Land mit Ruhpolding und Oberhof gleich zwei Standorte, die höchsten Ansprüchen genügen. Und als letzten klugen Schachzug vergab der neue Weltverband die Werberechte an eine international renommierte Agentur und legte gleichzeitig fest, dass man im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen sein musste, nicht hinter Bezahlschranken verschwand.
Seither läuft die Sportart wie von selbst, ist in Deutschland seit zwei Jahrzehnten Fernseh-Quoten-Garant, noch vor Skispringen und alpinem Skisport. Viele Dinge haben sich seither verändert, das Internet gewann an Bedeutung, social media Kanäle begleiten den Sport, die Aktiven selbst treten als Sender in Erscheinung. Dennoch bleibt das lineare Fernsehen (noch) das Maß der Dinge in Sachen Popularität. An der Perfektionierung der Übertragungen wird weiter geschraubt, Super-Zeitlupen, der Einsatz von Drohnen, Mikro-Kameras, 3-D-Grafiken, es scheint keine Grenzen zu geben. Und auch der Weltverband lebt die Kooperation zum gegenseitigen Nutzen, verfeinert und präzisiert sein Regelwerk, stimmt Startzeiten ab, schafft neue und verändert weniger erfolgreiche Formate. Vor 30 Jahren unvorstellbar! Aber: Das Publikum ist anspruchsvoller geworden, ein Zurück kann es deshalb nicht mehr geben. Auch wenn – und auch das gehört zur Wahrheit – anspruchsvolle Produktionen nicht eben billig sind. Der Erfolg jedoch gibt allen Entscheidungsträgern seit Jahren recht. Insbesondere auf dem deutschen Markt.
Fotos: K.Voigt Fotografie