Reine Nervensache

Skispringen wird oft im Kopf entschieden. Wer dafür noch einen Beweis sehen wollte, dem sei der Auftakt zur aktuellen Vierschanzentournee empfohlen. Denn selten sah man Favoriten in einer solchen Dichte straucheln, wie in diesem Winter an der Schattenbergschanze in Oberstdorf. Beispiel Richard Freitag: Der Deutsche – vor zwei Wintern noch als Mitfavorit zur Tournee gereist – blieb schon in der Qualifikation hängen. Freitag war unmittelbar vor Saisonbeginn im Training noch stark gesprungen, doch während der Weltcupserie, als an Training kaum noch zu denken war, schlich sich beim Sachsen eine Absprungfehler ein. Der 28jährige hopst inzwischen praktisch auf einem Bein vom Schanzentisch weg, die Folge sind viel zu kurze Luftfahrten und schlechte Platzierungen. Weil Richard Freitag ein erfahrener Skispringer ist, konnte er schon vor mehr als zwei Wochen genau benennen, wo es hapert. Abstellen konnte er den Fehler allerdings nicht. Weil der Kopf nicht mitspielt, Freitag nicht frei springt und deshalb immer wieder ins gleiche Fehlermuster verfällt. Beispiel Kamil Stoch: Der Pole reiste nicht zuletzt nach seinem Sieg in Engelberg mit dem Gefühl Richtung Heimat, dass die Form stimmt. Doch weil es in Polen eben rund um die Feiertage auch viel zu warm war, fielen die für den 26. Dezember geplanten Nationalen Titelkämpfe aus. Eigentlich wäre der Weltcup-Ort Wisla als Ausrichter dran gewesen, doch die Schanze erwies sich als nicht sprungfähig. So geriet der normale Rhythmus durcheinander, eine gewisse Unsicherheit machte sich breit und schon nach dem Tournee-Auftakt in Oberstdorf steht fest: Für den Überflieger der Olympiasaison 2017/18 ist es fast unmöglich, die Gesamtwertung zu gewinnen. Gleiches gilt für Gregor Schlierenzauer. Der Österreicher, einst DER Vorzeigeadler im rot-weiß-roten Skispringerlager, flattert seit geraumer Zeit seinen einstigen Erfolgen hinterher. Mit Ex-Bundestrainer Werner Schusterunternahm Schlierenzauer in diesem Sommer einen neuen Versuch, alte Leistungsstärke zurückzugewinnen und in der ersten Phase des Weltcups schien es so, als könne der zweifache Tourneesieger wieder anknüpfen, an alte Zeiten. Doch die Tournee ist eben ein anderes Kaliber, als normale Weltcupsprünge und so schaffte es Schlierenzauer in der Qualifikation gerade noch so in dasFeld der besten 50 und hatte im Duell mit Landsmann Stefan Kraft im ersten Durchgang nicht den Hauch einer Chance. Es geht aber auch anders: Ryoyu Kobayashi beispielsweise scheint keine Nervenzu kennen. Der Japaner – im Vorjahr Sieger in allen vier Wettbewerben – stand auch diesmal wieder ganz oben auf dem Treppchen. Weil er nach dem Erfolg im letzten Weltcup vor der Tournee wusste, dass die Form passt, weil bei ihm alle Abläufe wie immer funktionierten und weil er immer ein wenig unter dem Radar der breiten öffentlichen Aufmerksamkeit fliegt. Was alleine daran liegt, dass Kobayashi zwar ein offener und eloquenter Typ ist, von seiner Teamleitung aber gegenüber zu heftigen Liebesbekundungen von Fans und Medien konsequent abgeschirmt wird. Diesen Weg versuchten – mit wechselndem Erfolg – auch die Deutschen zu gehen. Markus Eisenbichler, nach seinen Erfolge Ende des letzten Winters als neuer Nationalheld auserkoren, flatterte zu Saisonbeginn mehr, als dass er flog. Was die einheimischen Medien aber nicht davon abhielt, den Bayern nach zweieinhalb einigermaßen vernünftigen Sprüngen im Weltcupverlauf trotzdem zum Mitfavoriten zu erheben. Rationale Gründe dafür gab es zwar keine, das störte aber nur marginal. Beim Oberstdorfer Karl Geiger dagegen lag die Sache anders. Geiger reiste als Weltcup-Gesamtdritter zur Tournee, sprang stabil. Einziges Manko: Auf seiner Heimschanze in Oberstdorf hatte der Allgäuer in der Vergangenheit nur selten zu ganz weiten Flügen ansetzen können – die Nerven. Doch diesmal zeigte der 26jährige beim Heimspiel die ganze Klasse – möglicherweise auch ein Resultat der in den letzten Wintern gewonnenen Wettkampfstabilität. Geiger segelte auf Platz 2 und könnte nun der neue Darling der Skisprung-Nation werden. Wenn der Kopf mitspielt.

 

Foto: T. Wiedensohler/Camera 4

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